Seismograph der Gegenwart

Ein polyvalentes Multitalent: der Kunstkritiker, Kurator und Maler Gillo Dorfles

Gillo Dorfles hat ein Jahrhundert Kunstgeschichte geschrieben und der Kultur im Werden auf den Puls gefühlt. Er hat die Kunstkritik neu erfunden aus der Perspektive des praktizierenden Künstlers mit dem Überbau des Theoretikers.

Sein Ruf eilt ihm meilenweit voraus, als er am Piazzale Lavater in Mailand an mir vorbeihuscht und an der Bar Tabacchi Briefmarken besorgt, um seinen auf der alten Olivetti getippten Artikel an den Corriere della Sera zu senden. Keine Biennale von Venedig, an der nicht gemunkelt wird, er sei gerade im Eiltempo von einem Pavillon zum anderen gestiebt, um über die aktuelle Situation in der Gegenwartskunst mit ungetrübter Hellsichtigkeit und analytischer Schärfe zu berichten. Auch die Buchhändlerin der Feltrinelli am Corso Buenos Aires erzählt stolz, wie oft er, stets äusserst elegant gekleidet, die Bücherregale nach neuen Theorien zu Kunst, Ästhetik und Design durchforstet.
Aber Gillo Dorfles ist nicht nur dank seines biblischen Alters von fast 106 Jahren ein Phänomen. In seinem langen Leben, von dem er bis heute jeden Moment intensiv auslotet, beforscht er – getrieben von seltener Neugierde, Energie und kritischem Geist – die Kunst des Augenblicks. Wie ein Seismograf zeichnet er das Brodeln der Kultur während ihrem Werden auf und sucht das Geschehen in Wort und Bild zu fassen.

In der heutigen hochspezialisierten Welt repräsentiert er eine seltene und etwas anrüchige Gattung: das polyvalente Multitalent. Der bekannteste Dorfles ist zweifellos der Kunstkritiker, welcher seit dem Ende des zweiten Weltkrieges unermüdlich alle Bewegungen in und um die visuelle Kultur in all ihren Erscheinungsformen beobachtet und analysiert, diese zu verstehen sucht, um die gewonnenen ¬– nie definitiven – Erkenntnisse dem Publikum als Orientierungshilfe weiter zu vermitteln. Daneben hat Dorfles seine phänomenologisch-technisch orientierte Theorie entwickelt und hat als ordentlicher Professor der Ästhetik in Mailand, Cagliari und Triest unzählige Vorlesungen gehalten und Publikationen verfasst. In den bewegten 60-er Jahren war der Professore als Kurator an kunsthistorisch wesentlichen Projekten beteiligt, welche aus heutiger Sicht einen annähernd seherischen Charakter haben: „Lo spazio dell’immagine“, eine der ersten Installationsausstellungen 1967 in Foligno und die Biennale von San Benedetto, 1969 mit Schwerpunkt Videokunst. Aber die Aktivität, welche dem Wahlmailänder am Meisten am Herzen liegt und welche seit den achtziger Jahren nach einem zwanzigjährigen Unterbruch ständig an Bedeutung gewonnen hat, ist die Malerei: derzeit widmet ihm das Macro in Rom eine von Achille Bonito Oliva kuratierte anthologische Retrospektive mit über hundert teils unveröffentlichten Bildern und Skulpturen und einer sorgfältig aufgearbeiteten Dokumentensammlung.
1951 gründete Dorfles zusammen mit Soldati, Monnet und Munari das MAC, Movimento d’arte concreta, in dem er sowohl als Künstler als auch als Theoretiker involviert war. Das MAC entstand in engem Kontakt mit den Zürcher Konkreten, verfolgte aber, im Unterschied zu den streng geometrischen Formen von Bill oder Lohse eine freiere Interpretation des Begriffs „konkret“: Goethes Idee „aus der Farbe heraus“ folgend sollten sich Formen entwickeln aus reiner Farbe, ohne vorherige Referenz, welche so ihre eigene „Konkretheit“ erlangen.
In seinem ersten theoretischen Werk, „Der technische Diskurs der Kunst“, („Il discorso tecnico dell’arte“, 1952/2003 Marinotti), lenkt Dorfles die Aufmerksamkeit vom bisher mehrheitlich idealistischen Ansatz in der italienischen Kunsttheorie von Croce und der Tendenz zur inhaltlichen Analyse in der Interpretation der Kunstwerke auf deren technischen und materiellen Aspekt. Erst durch das Material wird Kunst wirklich und gelangt zu ihrer effektiven Existenz. In seiner Analyse der Ausdrucksformen und Strukturen von Musik, Malerei, Skulptur und Architektur, wie Rhythmus, Farbe, Perspektive, Proportion, Intervall, sucht Dorfles die Konstruktionseinheiten der Künste und ihren Bezug zu Zeit und Raum aufzudecken und kommt zur Überzeugung, dass es keine vorgängig definierten strukturelle Regeln gibt, sondern dass sich allfällige Gesetzmässigkeiten erst a posteriori herausschälen und sich so oder so ständig verändern.
In der Einführung seiner Artikelsammlung „Das Werden der Kritik“ („Il divenire della critica“, 1976 Einaudi), klärt Gillo Dorfles seine Vorstellung von Kunstkritik. Diese soll Einzelurteile überwinden und an ihrer Stelle die sich wandelnden Grundwerte und Mechanismen des konkreten, empirischen Kunstmachens während ihrem Entstehen („divenire“) aufdecken und ständig neu einordnen. Das ästhetische Urteil und der Geschmack sind ständigen Transformationen und Erneuerungen unterworfen. Eine aktuelle Kunstkritik soll den traditionellen Jargon über Duktus, Komposition oder Farbgebung über Bord werfen und sich dem soziopolitischen Hintergrund öffnen sowie wissenschaftliche Interpretationsinstrumente wie Hermeneutik, Phänomenologie, Psychoanalyse oder Semiotik einbeziehen. Für Dorfles gehört das nonverbale visuelle Denken genauso wie das rationelle als archetypische Urform zum Menschen. Kunst kann nicht auf eine visuelle Erfahrung reduziert werden, da sie ebenfalls Erkenntnischarakter hat. Im Unterschied zum wissenschaftlichen Gegenstand liegt die Schwierigkeit der Kunsterfahrung und deren Kritik aber in der Mehrstimmigkeit, der Unbestimmtheit und der Ambivalenz der Kunst. Diese lässt sich nie wirklich festmachen, jedes Kunstwerk besitzt so viele Interpretationen wie Betrachter.
Trotzdem scheut sich der Kritiker Dorfles nicht vor klaren Urteilen. So moniert er beispielsweise die Bezeichnung „Arte povera“ von seinem Kritikerkollegen Celant und meint, diese ende in den anderen Sprachen als „Arme Kunst“, ganz zu deren Nachteil. Sehr kritisch äussert er sich gegenüber dem Kunstmarkt. Kunst soll ihre Unabhängigkeit, ihre absolute Freiheit behalten und soll keinesfalls für den Markt gedacht entstehen. Den Verkauf von Skizzen, Dokumentationsmaterialien und Überresten von Seiten der Konzept- und Performancekünstler verurteilt er mit harten Worten. Bereits Anfangs 70er Jahre schreibt Dorfles über Video- und Computerkunst, analysiert die neuen Medien und sagt die Wichtigkeit des Dialogischen und des Immateriellen („anoggettuale“) für die Kunst der Zukunft voraus.
Gillo Dorfles ist auch ein Vorläufer in Bezug auf seine „Multitasking-Existenz“. Heute ist es kein seltenes Phänomen, dass Künstler als Kritiker oder Kuratoren agieren oder umgekehrt. Aber wie geht Gillo Dorfles mit seinen verschiedenen, teils kollidierenden Rollen um? In seinen Schriften taucht diese Problematik kaum auf, sei es aus der Tatsache, dass er seine Privatsphäre ungern preisgibt, sei es, dass er seine Aktivitäten tatsächlich in getrennten Welten lebt oder dass ihm ein latenter Interessenskonflikt bewusst ist. Bei genauerem Betrachten fällt doch ein innerer Zusammenhang der Rollen auf: Als Theoretiker interessiert sich Dorfles für den technisch, materiellen Aspekt und das Machen in der Kunst, während sich in seiner Malerei das Gedächtnis seines enormen Wissens in der Formenwelt und in den intelligenten Titeln unmerklich niederschlägt.
In Bezug auf die Rezeption seiner Malerei nimmt er die eigene Rolle des Kritikers als störend und eher verhindernd wahr, wohl deshalb findet seine Kunstproduktion in einem abgeschotteten Raum statt. Erst in den letzten Jahren erfuhr seine „konkrete“ Malerei Aufmerksamkeit in einem institutionellen Rahmen. Seine bunten Bilder wimmeln von surrealen Wesen, Verrückten und – auch hier – seismografischen Farbaufzeichnungen einer inneren, instinktiven, irrationalen Welt und haben sich seit ihren Anfängen vor 87 Jahren kaum verändert. Der Schaffensprozess hat sich so in einen vom Markt und der Kritik geschützten Raum in Freiheit unabhängig entwickeln können und Gillo Dorfles hat seine geliebte Malerei vor jeglicher Logik des Urteilens – sei dies ästhetisch oder merkantil – fernhalten können. Als Künstler positioniert sich Dorfles ausserhalb, als Kritiker stürzt er sich in das Geschehen.
Der Mann, welcher die Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts mitgeschrieben hat, erörtert mir während unserem Treffen seine durch die Langlebigkeit erweiterte Zeitwahrnehmung: „Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Zeit. Was mich vor 20 Jahren interessierte, interessiert mich nicht mehr, sondern mich interessiert das, was heute passiert. Aber wirklich darüber zu reden, wird erst in zehn Jahren möglich sein: mit der richtigen zeitlichen Distanz.“

Biography:
106 Jahre Zeitzeuge der visuellen Kultur
Angelo Dorfles ist 1910 im österreichisch-ungarischen Triest geboren und nach dem ersten Weltkrieg – während dem er mit seiner Familie wegen Feindseligkeiten gegen die italienischstämmige Bevölkerung nach Genua übersiedeln musste – wieder in das intellektuell stimulierende Umfeld seiner Geburtsstadt zurückgekehrt. Mit 13 Jahren pflegte er dort einen regen kulturellen Austausch mit den Schriftstellern Italo Svevo und Eugenio Montale und nahm mit der gleichaltrigen Künstlerin Leonor Fini und dem zukünftigen New Yorker Galleristen Leo Castelli am kulturellen Leben um Bobi Bazlen, dem späteren Gründer des Adelphi-Verlags teil. In dieser ihn stark prägenden Zeit kam er mit der formal experimentierenden zeitgenössischen Literatur von Joyce, Kafka und Proust sowie mit den psychoanalytischen Schriften von Sigmund Freud in Berührung. Den zweiten Weltkrieg verbrachte Dorfles malend und dichtend in der Toskana. Nach seinem Medizinstudium in Mailand spezialisierte er sich in Psychiatrie, arbeitete aber nie auf seinem Beruf, auch wenn ihn diese Formation stark geprägt hat. Seit den fünfziger Jahren widmet sich der Quereinsteiger in Theorie und Praxis der Kunst, dem Design und dem Geschmack.


„Gillo Dorfles, Essere nel tempo“, kuratiert von Achille Bonito Oliva
MACRO, Museo d’Arte Contemporanea Roma, 27. November 2015 -30. März 2016.
Katalog Skira Editore, 336 Seiten, Euro 45



23.02.2016
Published in NZZ


Published in
Neue Zürcher Zeitung

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