Kunst zwischen Versprecher und Verständigung

In der sorgfältig inszenierten Ausstellung „Slip of the Tongue“ in der „Punta della Dogana“ in Venedig, orchestriert der vietnamesische Künstler Danh Vo Werke der Sammlung Pinault, dem roten Faden des Kuratierens aus einer autobiografischen Warte folgend. Er spinnt so ein Netz von Bedeutungen ausgehend von eigenen Arbeiten im Dialog mit Werken von 52 Kunstschaffenden aus der ganzen Welt. In losem und poetischem Zusammenspiel berühren die Arbeiten Themen wie Krieg, Kolonialismus, Leben und Tod.

Wo der Canal Grande in den Giudecca-Kanal mündet, gibt die Spitze des dreieckigen Gebäudes „Punta della Dogana“ endlich den Blick frei. Während der Venezianischen Republik wurden hier die Güter des Meereshandels am Zoll abgefertigt. In der Ausstellung „Slip of the Tongue“ nimmt der vietnamesische Künstler Danh Vò (1) diese Schnittstelle zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf, ausgehend vom eigenen Leben, welches 1975 – am Ende des Vietnamkrieges – seinen Anfang nimmt und von Auswanderung und Multikulturalität geprägt ist: Studium in Kopenhagen und Frankfurt, aktueller Standort Mexiko.

Bereits im ersten Raum hängt sein Werk „08:03, 28.05“: Der Kronleuchter aus dem Ballsaal des Ex-Hotels Majestic in Paris, in welchem 1973 der Frieden von Vietnam besiegelt wurde. Darauf folgt die Fotografie von Robert Manson: eine offene Hand, welche eine Heuschrecke beschützend in sich birgt. Ein klares Statement: Geschickt verbindet der Künstler-Kurator seine Biographie mit der Geschichte und sein Agieren mit den Werken aus der Sammlung Pinault. Das Kuratieren selber wird thematisiert und in seinem sammelnden aber auch pflegenden Aspekt – curare, to take care of – als sinnstiftender Akt verstanden. Die Dialoge zwischen den eigenen Ready-Made-Arbeiten und den Werken der anderen, lassen den Vorgang des Ausstellungsmachens als kreativen Prozess erscheinen im Sinne Duchamps: die Auswahl des Gegenstandes und dessen Inszenierung im Raum und in Bezug zu den anderen Objekten stellt den künstlerischen Akt dar und generiert Bedeutung. Die Ready-Mades reichen von Marcel Broodthaers, über Huber Duprat, David Hammons, Bertrand Lavier, bis zu Piero Manzoni. Während Leonor Antunes funktions- und machtlose Zügel zu Zufallszeichnungen im Raum verkommen, betiteln Elmgreen & Dragset ihr durch eine Scheibe unbrauchbar gewordenes Trampolin als „Machtlose Struktur“. Der Austausch reicht oft ins wirkliche Leben: so sucht Roni Horn mit dem „Gold Field“ ihren Aids kranken Freunden Felix Gonzales Torres und Ross Laykock mehr Licht zu schenken und Torres selber kreiert mit „Untitlet“ (Portrait of Julie Ault) ein konzeptuelles Abbild, in dem Daten und Ereignisse von der porträtierten Künstlerin selber ständig neu ergänzt werden, über den Tod des Autors hinaus.

„Slip of the Tongue“ ist der Titel einer Installation von Nairy Baghramian, bestehend aus 8 bemalten Harzobjekten, welche an eine Glasvitrine anlehnen und so die Vertikalität erlangen, die eine Skulptur erst ausmacht – möglicherweise als Antwort auf die schlafende Muse von Brancusi. Die Bedeutung des Titels – „Zungenausschlipfer“ oder besser Versprecher – erklärt Danh Vo gleich selber: „Gute Kunst ist eine Art Versehen: etwas zu sagen, das man eigentlich nicht sagen sollte“. (2)

1 Kuratiert in Zusammenarbeit mit Caroline Bourgeois
2 Aus dem Interview von Matteo Mottin im A+P Diary

Barbara Fässler ist Künstlerin und Theoretikerin und unterrichtet an der Schweizer Schule Mailand.

Punta della Dogana, Pinault Collection, bis 31.12.2015 www.palazzograssi.it

KünstlerInnen: Leonor Antunes, Julie Ault, Nairy Baghramian, Giovanni Bellini, Constantin Brancusi, Marcel Broodthaers, Giovanni Buonconsiglio, detto il Marescalco, Jos De Gruyter & Harald Thys, Hubert Duprat, Elmgreen & Dragset, Luciano Fabro, Fischli & Weiss, Felix Gonzalez-Torres, Petrit Halilaj, David Hammons, Roni Horn, Peter Hujar, Tetsumi Kudo, Bertrand Lavier, Zoe Leonard, Francesco Lo Savio, Lee Lozano, Robert Manson, Piero Manzoni, Sadamasa Motonaga, Jean-Luc Moulène, Henrik Olesen, Pablo Picasso, Sigmar Polke, Carol Rama, Charles Ray, Auguste Rodin, Cameron Rowland, Carlo Scarpa, Andres Serrano, Nancy Spero, Sturtevant, Alina Szapocznikow, Paul Thek, Danh Vo, David Wojnarowicz, Martin Wong

Anonimo. Abruzzo, XIII secolo, Anonimo. Italia centrale, XIII secolo, Maestro delle Decretali di Lucca, XIII secolo, Anonimo. Perugia, XIV secolo, Maestro del Seneca, XIV secolo, Nerio. Bologna, XIV secolo, Anonimo. Firenze, XV secolo, Maestro Olivetano, XV secolo, Maestro del Lattanzio riccardiano, XV secolo, Scuola di Tiziano

Alle Fotografien: Barbara Fässler



2015
Slip of the Tongue curated by Danh Vò, Caroline Bourgeois
Punta della Dogana Venezia


Published in
Kunstbulletin 7-8/2015
undo.net

Danh Vò,
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Danh Vò, “Untitled”, 2007, Fonds National d’Art Contemporain, Paris; back “08:03, 28.05”, 2009, dimension variable, Satens Museum for Kunst, Kopenhagen

Robert Manson,
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Robert Manson, “Travaux des champs et animaux de la ferme”, 1950 circa, Pinault Collection

Nairy Baghramian,
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Nairy Baghramian, “Slip of the Tongue”, 2014, dimension variable, Courtesy Galerie Buchholz Berlin/Köln and kurimanzutto, Mexico City

Roni Horn,
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Roni Horn, “Gold Field”, 1980-1982, collection of the artist