Ernst Ludwig Kirchner und die Erhabenheit der Berge

Höchstpersönlich führt mich der Hausherr Gabriele Braglia durch die erste Ausstellung seiner luganeser Stiftung, welche nicht vollständig aus seiner Sammlung schöpft, sondern sich mehrheitlich aus Leihgaben des Kirchner-Museums in Davos zusammensetzt.

In den 50er Jahren hat das Ehepaar Gabriele und Anna Braglia ihre Sammlung initiiert, vorerst mit italienischer Gegenwartskunst, um sich später, inspiriert durch ihre Europareisen, auf den deutschen Expressionismus zu konzentrieren. Ihren ersten Kirchner konnten sie allerdings erst 2019 erstehen: Die ‹Heimkehrende Ziegenherde› erinnert vage an die traditionelle Appenzeller Malerei, in welcher sich Kühe, Geissen und Bauernfamilien während dem Alpaufzug im Gänsemarsch den Berg hinaufschlängeln. Einzig, in Kirchners Version ist die Komposition – wie sein Leben damals – aus dem Lot geraten. Die Wege und die Baumreihen sind schräg gekippt und die Farben erinnern an einen Vulkanausbruch, verstärkt durch den Einsatz der Komplementärpaare rot-grün und blau-orange, was dem Bild mit seiner spiralförmigen Konstruktion eine schwindelerregende Sogwirkung verleiht.
1917 strandet Kirchner physisch und psychisch schwer lädiert in Davos, nach seiner Künstlerkollaboration mit der Gruppe ‹Die Brücke› 1905-1913 und nach traumatischen Erlebnissen im ersten Weltkrieg. In der Bergidylle, wo er seine letzten 21 Jahre bis zu seinem gewaltsamen Tod 1938 verbringen wird, findet er – nach Kur und Internierung bei Dr. Binswanger im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen – endlich die nötige innere Ruhe, um sein Werk wieder aufzunehmen.
Die Ausstellung mit Skizzenbüchern, Bleistiftzeichnungen, Radierungen, Lithografien und Ölgemälden legt den Fokus auf das Bergleben und dessen Darstellung. Das ‹Sertigtal im Herbst› nimmt den berühmtesten Schweizer Bergmaler Hodler auf, mit den in Blautönen modellierten Bergketten und den umgebenden Violett- und Grüntönen. Im ‹Bauer einen Schubkarren ziehend› klingt formal die Idealisierung der Bauern- und Arbeiterklasse aus dem sozialistischen Realismus nach: die gebogene Statur, die breiten Schultern und die grossen Pranken werden in holzschnittartiger Schraffur untermalen. Die drei alten Frauen hingegen evozieren die sachliche Darstellung der drei Jungbauern bei August Sander.
Die Zeichnungen überraschen mit ihrem wilden, energetischen und gestischen Strich, die Malereien überwältigen mit ihrer schreienden Energie: beide drücken einen innerlich aufreibenden Kampf mit dem Leben, dem Erhabenen und der Materie aus, von dem folgende Worte Kirchners zeugen: «Oh, wenn man das malen könnte! Man kann es ja leider mit diesen schrecklichen Farben nicht wiedergeben.»



1.4.-31.7.2021
Ausstellung
Fondazione Gabriele e Anna Braglia, Lugano


Published in
Kunstbulletin 7-8/2021

Ernst Ludwig Kirchner, Heimkehrende Ziegenherde, 1920, Öl auf Leinwand, Fondazione Gabriele e Anna Braglia, Lugano. Foto: Roberto Pellegrini
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Ernst Ludwig Kirchner, Heimkehrende Ziegenherde, 1920, Öl auf Leinwand, Fondazione Gabriele e Anna Braglia, Lugano. Foto: Roberto Pellegrini

Ernst Ludwig Kirchner, Bauer einen Schubkarren ziehend, 1926-1926/1932, Öl auf Leinwand, Courtesy Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern
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Ernst Ludwig Kirchner, Bauer einen Schubkarren ziehend, 1926-1926/1932, Öl auf Leinwand, Courtesy Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern

Ernst Ludwig Kirchner, Bergbach mit Brücke, Suzibach bei Davos, 1920
Kirchner Museum Davos, Schenkung Nachlass Ernst Ludwig Kirchner 1994
Foto: Stephan Bösch
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Ernst Ludwig Kirchner, Bergbach mit Brücke, Suzibach bei Davos, 1920 Kirchner Museum Davos, Schenkung Nachlass Ernst Ludwig Kirchner 1994 Foto: Stephan Bösch