Max Beckmann, Malereien, Skulpturen, Zeichnungen und Druckgrafik

Studium: Trotz dem klaren Bildaufbau mit der Horizontlinie auf zwei Dritteln und dem massiven Streifen links oben, welcher den einzigen, schmutzig grünlichen Raum frei lässt, ist in diesem Bild keine Linie horizontal und keine vertikal.

Der Raum ist destabilisiert, nichts steht mehr, alles kippt, fällt. Ein wildes, unübersichtliches Mischmasch von Farben, Linien, Strukturen verwirrt die Orientierung. Auf den ersten Blick wirkt das Aquarell fast abstrakt, die frei hingeworfenen Tusche-Linien und die schiefen Farbflächen schaffen eine dynamisch drehende Situation, einen Sog, der sich rund um den Mittelpunkt des wimmelnden unteren Bildteils dreht. Der Blick folgt der Drehbewegung, fällt auf den unruhig ins Bild wehenden gelblichen Vorhang im angeschnittenen Fensterrahmen welcher auf das von Aussen eindringende Unheil deutet. Allmählich werden Gegenstände erkennbar: harsch umgeworfene und in alle Richtungen weisende Tische, Stühle, Lampen, ein zerborstener Spiegel. Das Bild der totalen Zerstörung. Punktum: erst jetzt fällt die Aufmerksamkeit auf die einzigen warmen Farben im Bild. Knallrote kleine Tupfer auf weissem Grund. Gleich darunter: ein Paar nackte Füsse ragen kaum merklich unter grünen und weissen Flächen hervor. Jetzt erst erschliesst sich die Horror-Szene: es handelt sich um die Füsse des soeben Ermordeten, welcher mausetot unter dem Blut verschmierten Leintuch begraben liegt. Das Aquarell „Der Mord“ von 1933 ist symptomatisch für Max Beckmanns luzide Chronik seiner dramatischen Zeitepoche. Die Gräuel werden nie direkt erzählt, sondern erschliessen sich der Wahrnehmung erst nach genauem Hinsehen über den formalen Bildaufbau, die Linienrichtungen, die Farbwahl, die harten Kontraste und Mikrohinweise, wie etwa die hervorschauenden Füsse, schwarze Silhouetten, aufgewühltes Wasser, verwelkte Blumen, tote Fische oder melancholische Blicke. Beckmann verarbeitet so die Grausamkeiten des ersten Weltkriegs, welche ihn zu einem psychophysischen Zusammenbruch getrieben haben, die Dekadenz der Zwischenkriegsjahre und das Leiden im Exil. Er sollte nie mehr nach Deutschland zurückkehren, nach der demütigenden Erfahrung in den Kanon der entarteten Kunst eingereiht worden zu sein von den Nazischergen. Die Retrospektive im Museo d’Arte Mendrisio, beschreibt in einem chronologischen Ablauf die Entwicklung des deutschen Malers von den neoimpressionistischen, menschenleeren Landschaften der Anfänge, über das grafische Werk der Neuen Sachlichkeit bis zu seinem Spätstil mit geläuterten Formen und fröhlicheren Farben. Das Ende bringt Erlösung.



28.10.2018-27.1.2019

Museo d’Arte Mendrisio


Published in
Kunstbulletin 1-2/2019

Max Beckmann, Der Mord
1933, Aquarell und Tusche über Vorzeichnung mit schwarzer Kreide auf Papier, Privatsammlung, Frankfurt am Main, © 2018, ProLitteris, Zurich
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Max Beckmann, Der Mord 1933, Aquarell und Tusche über Vorzeichnung mit schwarzer Kreide auf Papier, Privatsammlung, Frankfurt am Main, © 2018, ProLitteris, Zurich

Max Beckmann, Rote Tulpen und Feuerlinien 1935, Öl auf Leinwand, Merzbacher Kunststiftung, © 2018, ProLitteris, Zurich
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Max Beckmann, Rote Tulpen und Feuerlinien 1935, Öl auf Leinwand, Merzbacher Kunststiftung, © 2018, ProLitteris, Zurich

Max Beckmann, Selbstbildnis auf Grün mit grünem Hemd 1938-1939, Öl auf Leinwand, Museum der bildenden Künste Leipzig, Nachlass Mathilde Q. Beckmann © 2018, ProLitteris, Zurich
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Max Beckmann, Selbstbildnis auf Grün mit grünem Hemd 1938-1939, Öl auf Leinwand, Museum der bildenden Künste Leipzig, Nachlass Mathilde Q. Beckmann © 2018, ProLitteris, Zurich